Die Kaiserresidenz in Beijing ist 600 Jahre alt

Im Jahr 1420, also vor genau 600 Jahren, ist der Kaiserpalast in Beijing fertiggestellt worden. 600 Jahre sind eigentlich eine lange Zeit, für das kaiserliche China waren es jedoch nur die letzten beiden Dynastien, die chinesische Ming-Dynastie und die manchurische Qing-Dynastie. Die Kaiserpaläste und Hauptstädte lagen seit dem Beginn der Kaiserzeit im 2. Jh vor Chr. weiter im Süden und Westen des Landes, z.B. in Nanjing oder Suzhou, in Luoyang und vor allem im zentral gelegenen Xi’an. Erst die Mongolen gründeten im 13. Jh. ihre Hauptstadt in der Nähe des heutigen Beijings. Dadu hieß sie, Marco Polo berichtete von ihr, China war damals Teil des viel größeren Mongolenreichs. Der Ming-Kaiser Zhu Di verlegte 50 Jahre später endgültig die Hauptstadt in den Norden in die Nähe der Großen Mauer. 1406 fing er damit an, 10 Jahre Vorbereitung und Planung und nur 4 Jahre Bauzeit. 

Auch wenn die Beijing-Zeit nur ein kleiner Ausschnitt der chinesischen Geschichte ist, die grandiose Architektur, die Blütezeit der beiden Herrscherhäuser, die Rebellionen, der Konflikt mit dem Westen und schließlich das Ende des kaiserlichen Chinas im Jahre 1912 sind so vielfältig und umfangreich, dass ein Artikel nicht ausreicht. Ich versuche es erst gar nicht und begnüge mich nur mit ein paar wenigen Schlaglichtern.

Wie groß ist eigentlich der Kaiserpalast?
Der Kaiserpalast ist 723.633 qm groß, 753 m in Ost-West-Richtung und 961 m in Nord-Süd-Richtung. Auf diesem Gelände stehen 980 Gebäude mit 8707 Räumen. Der Kaiserpalast ist damit die größte zusammenhängende Palastanlage der Welt und mit 1,8 Millionen Artefakten eines der umfangreichsten Geschichtsmuseen. Aber die Anlage ist nur im Zusammenhang mit ihrer Umgebung zu verstehen. Eine knapp 8 km lange Nord-Süd-Achse teilt nicht nur den Kaiserpalast in zwei symmetrische Hälften, sondern sie verläuft auch genau durch die Mitte Beijings. Auf dieser Zentralachse sind die wichtigsten Gebäude aufgereiht: das südliche Yongding-Stadttor, das Mao-Mausoleum, das Denkmal für die Helden der Revolution, die fünf Tore und die drei Höfe des Palastes, der Jing-Berg, der Glocken- und der Trommelturm. Diese Achse ist das Zentrum, das Zentrum des Palasts, der Hauptstadt, des Reichs, ja im klassischen China der gesamten bekannten Welt Tianxia. Sie steht als Kraftlinie symbolisch für den kaiserlichen „Drachen-Puls“, im Norden Berge, im Süden Wasser, im Norden sitzend nach Süden schauen, ganz nach der klassischen Fengshui-Lehre. Heute kann man diese Achse noch auf dem Stadtplan Beijings erkennen, auch wenn sie von zahlreichen Querstraßen zerschnitten wird. Auch heute ist der Kaiserpalast die Mitte Beijings, auch wenn die Stadt um ein Vielfaches gewachsen ist, Zhongnanhai, Teile der Gartenanlage, ist auch heute Regierungssitz.

Wer hat den Kaiserpalast und Beijing bauen lassen?
Kaiser Zhu Di, der dritte Ming-Kaiser, verlegte die Hauptstadt von Nanjing nach Beijing. Er hat in seiner Regierungszeit „Ewige Freude“ (1403 bis 1424) nicht nur die Hauptstadt verlegt, sondern auch mehrere Großprojekte vollendet. Er ließ die Große Mauer ausbauen und wehrte die Angriffe nördlicher Steppenvölker ab, er ließ eine stattliche Flotte bauen, die bis nach Afrika fuhr, er ließ das gesamte Wissen seiner Zeit in eine 12.000-bändige Enzyklopädie fassen, er fühlte sich dem Wassergott des Nordens, Xuanwu, sehr nahe, ein Tempel am Nordtor des Kaiserpalasts und der umfassende Ausbau des daoistischen Klosterareals in Wudangshan gehen auf ihn zurück. Bis heute wird dort Xuanwu verehrt. Zhu Di war sicherlich einer der herausragenden Herrscher Chinas. 

Welche Bedeutung hat der Kaiserpalast?
Die Architektur des Kaiserpalasts ist gebaute Kosmologie, ist nichts weniger als Abbild der harmonischen Ordnung des Universums mit dem Kaiser als Sohn des Himmels im Zentrum. Anhand des Kaiserpalasts kann man die komplette chinesische Weltanschauung erklären. Sowohl die Yin-Yang- als auch die Fünf Phasen-Lehre spiegeln sich darin wider. Es kommt gar nicht so sehr auf einzelne Gebäude an, sondern auf die Gesamtanlage, auf die Abfolge von Toren, Hallen und Palästen, Hügeln, Flüssen und Brücken, auf die Anzahl der Durchgänge, auf die Abstände, Maße, Dachneigungen der Gebäude und Winkel der Plätze und nicht zuletzt auf die Farben: das Mittagstor im Süden steht für das Feuer und ist knallrot, das Nordtor steht für das Wasser und trägt schwarze Farbe, die Mitte, der Zhonghe-Palast, ist gelb wie die Erde. Diese Gesamtkomposition strahlt eine unglaubliche Ruhe und Harmonie aus, die jeden berührt, der sich in dieser Anlage bewegt. Das gilt nicht nur für den Kaiserpalast, sondern auch für den Himmelstempel und die kaiserlichen Grabanlagen, soweit sie als Gesamtanlagen noch intakt sind.  

Und heute?
Heute kommen 19 Millionen Besucher im Jahr, Kaiser Zhu Di wird zur Wechat-fähigen Comicfigur, historische Figuren tanzen und schauen durch VR-Brillen und leise rieselt der Schnee auf historischen Rollbildern. Ein umfängliches Merchandising-Programm mit Notizbüchern, Lippenstiften, Seidentüchern und Teetassen bringt auf der größten E-Commerce-Plattform T-Mall einen traumhaften Umsatz von 10 Milliarde RMB im Jahr 2015, Apps bieten stimmungsvolle Fotos vom Palast im Schnee oder inmitten blühender Pflaumenbäume – der findige Museumsdirektor Shan Jixiang hat sich eine Menge einfallen lassen, um die Jahrhunderte alte Geschichte des alten Palastes in die Neuzeit zu holen und vor allem der jungen Generation schmackhaft zu machen. Er sieht es als seine Pflicht an, die ehemalige Kaiserresidenz zu einem Teil des modernen Lebens zu machen und fragt sich, wie würden sich die historischen Figuren heute verhalten. Er organisiert mehr Ausstellungen, sodaß von den 1,8 Millionen Artefakten des Museums deutlich mehr der Öffentlichkeit zugänglich werden. Apps lassen alle daran teilhaben, auch diejenigen, die nicht ins Museum gehen. Eine Reihe von Videos stellen die Geschichte des Palasts und seine Sehenswürdigkeiten vor, ein neues, stylisches Café lädt zum Verweilen ein, und es werden immer mehr Areale des Palastes renoviert und für Besucher geöffnet. 

Zhu Di, der Gründer von Beijing, in Wechat-kompatibler Form. Das komplette, sehr sehenswerte Rap-Video findet sich hier:
https://v.qq.com/x/page/c0311sp8s1g.html

Nicht jedem gefällt die Wandlung des alten Palastes hin zur Lifestyle-Marke. Aber eines hat Shan geschafft: er hat den Staub der Jahrhunderte weggeblasen, er spricht die Massen an, vor allem junge Menschen, er verbindet geschickt historisches Wissen mit neuer digitaler Technik und verleiht dem altehrwürdigen Kaisertum eine spielerische, unterhaltsame Note. Chapeau, das kann nicht jeder Museumsdirektor von sich behaupten. 

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