Was mich beim Taijiquan und Qigong immer wieder beschäftigt: was meinen Chinesen, wenn sie „song“ („entspannt, locker sein“) sagen und wie schaffen sie es, „yi“ („Bewusstsein, Intention“) mit „Entspannung“ zu verbinden? Was bedeutet „Bewusstsein einsetzen und nicht Kraft“ („yong yi, bu yong li“) und was ist der Unterschied zwischen „li“ („Muskelkraft“) und „jin“ („entspannter Kraft“)?
Die letzten beiden Ausgaben des Wudaoguan-Newsletters handeln genau davon: „Wie entspannen bei der Übung ‚Stehen wie ein Baumstamm'“ und „Ohne Bewusstsein yi ist Taijiquan nur einfache Gymnastik“. Das Wudaoguan, die Wudang-Schule in Beijing, bei der ich seit gut zwei Jahren Unterricht nehme, veröffentlicht regelmäßig kurze, sehr hilfreiche Newsletter, die immer wieder nützliches Hintergrund-Wissen als Ergänzung zum Unterricht enthalten. Die folgenden Absätze sind Auszüge aus den beiden oben genannten Newslettern, die wie ich finde etwas ungewöhnliche, aber sehr praktische Hilfestellungen geben.
Richtiges Entspannen beginnt – wie bei so vielem im Qigong und Taijiquan – mit Steh-Übungen, dem zhanzhuang, dem „Stehen wie ein Baumstamm“. Nachdem man die korrekte Körperhaltung eingenommen hat, geht man wie folgt vor:
Sich als Teil der Natur empfinden wie ein „Fisch im Wasser“
Man stellt sich vor, man steht auf einem Stein in einem See, saftiges Grün wächst am Ufer, Vögel singen leise, ein leichter Wind kräuselt das Wasser und der Körper bewegt sich sanft im Wind.
Jedes Körperteil entspannen, locker und luftig sein wie „ein Krapfen“
In der Vorstellung wandert man von oben nach unten durch den gesamten Körper, bleibt an jedem Körperteil stehen, löst Verspannungen, lockert Blockaden – von der Kopfhaut über die Ohren, Augen, Nase, Mund, Kiefer, Hals, Schultern, Arme, Becken, Knie bis zu den Zehen und den Fingern. Entspannen bedeutet jedoch nicht sich einfach hängenzulassen oder in sich zusammenzusacken, sondern vielmehr nach außen auszudehnen und locker und luftig zu sein „wie ein frisch gebackener Krapfen“ (im Originaltext steht „mantou„, ein weicher, gedämpfter Teigkloß aus Weizenmehl, ein Krapfen hat eine vergleichbare Konsistenz – Anmerkung des Autors).
Steh-Auf-Männchen und Struktur im Körper beibehalten
Man stellt sich vor, das Muskelfleisch im ganzen Körper fließt langsam nach unten wie dicker Lehm. Beine und Füße werden kräftig, man fühlt sich wie ein „Steh-Auf-Männchen“: unten schwer, oben leicht. Gleichzeitig bleibt die Knochenstruktur des Körpers erhalten . Man kann sich auch vorstellen wie Lehm an einem Hang herunter fließt, der Fels jedoch stehen bleibt, oder – noch ein anderes Bild – wie Kleider an einem Kleiderbügel hängen, der Kleiderbügel steht für die Knochen, das Kleid für die Muskeln.
Die Knochen sitzen locker, die Gelenke sind offen, und man versucht nun mit dem Bewusstsein, die Abstände in den Gelenken zu vergrößern – im Schultergelenk, zwischen den einzelnen Wirbeln der Wirbelsäule, die Leiste, die Hand- und Fußgelenke.
Den Körper in alle sechs Richtungen ausdehnen
Nach oben und unten, vorn und hinten, links und rechts – in alle sechs Richtungen dehnt man den Körper aus und man spürt ein Gefühl der Leichtigkeit und der Entspannung. Das Ausdehnen des Körpers ist durchaus konkret zu verstehen, der Körper weitet sich in alle Richtungen bis an den Horizont, bis ins Unendliche aus. Das Bewusstsein erfüllt den gesamten Kosmos, die Leere xu. Aufgrund der Entsprechung des Qi fließt das Ursprungs-Qi des Kosmos ganz natürlich in den Körper (hier spielt sehr stark der daoistische Gedanke von der Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos eine Rolle. Innen und Außen ist eins, es gibt keine Unterscheidung zwischen Körper und umgebender Welt, im Kleinsten spiegelt sich das Ganze wider – Anmerkung des Autors).
Das Bewusstsein zurückholen
Nach etwa der Hälfte der Übungszeit holt man das Bewusstsein von den sechs Richtungen wieder zurück in den Körper. Man bewahrt das Bewusstsein im Mingmen oder im Dantian, lässt das Qi im ganzen Körper fließen, ist „leer“. Das Bewahren im Dantian ist kein Konzentrieren auf einen einzigen Punkt, sondern auf ein Areal im Unterbauch, das auf den ganzen Körper ausstrahlt, ähnlich wie bei einer Lampe: Docht und Flamme sind das Dantian, die Lampe ist der ganze Körper, das Dantian als Zentrum strahlt auf den gesamten Körper aus.
Die Ernte einbringen
Vor Abschluss der Übung richtet man das Bewusstsein auf den Nabel. Am Anfang der Übung steht das Säen, zum Schluss bringt man die Ernte ein: Beide Hände übereinander legen, 9-18 Mal in Gegenrichtung um den Nabel kreisen, dann in die andere Richtung 9-18 Mal drehen. Ganz zum Schluss bleiben die Hände 1-2 Minuten auf dem Nabel liegen.
Verbindung von Bewusstsein und Entspannung
Abschließend noch eine einfache Übung wie man das Bewusstsein mit Entspannung und Bewegung verbindet. Die Übung heißt „Das Bewusstsein verbindet Atmen und Entspannen“ (xisong heyi). Diese kleine Übung kann als Vorbereitung zu jeder Übungsreihe gemacht werden und unterstützt die innere Bewegung. Der Einstieg ist immer ganz wichtig, findet man den richtigen Start, läuft die gesamte Übung fast von alleine:
Yi (Bewusstsein oder Intention) reguliert den Atem (tiaoxi), lockert den Körper (songshen), bewegt Qi (xingqi) und setzt die entspannte Kraft (shijin) in Bewegung, löst also die inneren Bewegungen aus, die man „Yi-Qi-Bewegung“ (yiqi yundong) nennt. Man steht aufrecht und still, die Gedanken konzentrieren sich auf das Atmen und Entspannen. Beim Ausatmen wandert das Bewusstsein in der Mitte des Körpers von oben nach unten, das Ausatmen wird nicht unterbrochen, ebenso wird das Bewusstsein nicht unterbrochen, Stück für Stück werden der Hals, die Brust, der Bauch, die Leiste, die Knie und die Beine mit dem Bewusstsein entspannt. Ist das Ausatmen beendet, ist man bei den Füßen angelangt. Dasselbe macht man mit den Armen und Händen. Stück für Stück werden Schultern, Ellbogen, Handgelenke, Hände und Finger mit dem Ausatmen und dem Bewusstsein entspannt. Wenn das Bewusstsein bei den Händen angelangt ist, hat man ausgeatmet. Die Übung nennt man „Verbindung von Bewusstsein, Atmung und Entspannung“. Die Atmung ist etwas Instinktives, Entspannung ist eine innere Bewegung. Um die Atmung mit der inneren Bewegung zu koordinieren ist yi, Bewusstsein, notwenig. Nach einer Weile verbindet sich das Ausatmen mit Entspannung auf natürliche Weise, sodass Entspannen gleichzeitig Ausatmen bedeutet und umgekehrt. Atmung und Entspannung ist die Basis der inneren Qi-Bewegung, d.h. Übung des Bewusstsein ist immer auch eine Übung von Bewusstsein und Qi.