Kai-Fu Lee: 
Ohne Kulturwandel wird Künstliche Intelligenz die Gesellschaften spalten

„Lassen Sie uns den Entschluss fassen, Maschinen Maschinen sein zu lassen und Menschen Menschen. Beschließen wir, unsere Maschinen lediglich zu nutzen, und wichtiger noch: uns gegenseitig zu lieben“ – dazu ruft uns Kai-Fu Lee ganz am Ende seines Buchs auf. Wie kommt ein solcher Satz in ein Buch mit dem Titel „AI Superpowers – China, Silicon Valley und die neue Weltordnung“? Denkt man bei diesem Titel doch zunächst an den Technologie-Wettkampf zwischen China und den USA, an den Wettlauf zweier Supermächte um die KI-Krone. 

Genau damit fängt der international renommierte KI-Wissenschaftler und Unternehmer Kai-Fu Lee auch an. Lee kann eine großartige Karriere in der IT-Industrie in den USA und in China vorweisen, hat in den USA Highschool und Universität absolviert, arbeitete später im Silicon-Valley für große Technologie-Konzerne, leitete Google China und  gründete schließlich sein eigenes Wagniskapital-Unternehmen Sinovation Ventures im Beijinger Technologie-Park Zhongguancun. 

In den letzten 5-10 Jahren hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen, meint Lee. Noch vor ein paar Jahren sind die US-amerikanischen Internetfirmen in China einfach kopiert worden. Google, Youtube, Facebook, E-Bay, Twitter, Uber – alle haben ihr „chinesisches Pendant“. Sie heißen Baidu, Youku, Weibo, Alibaba oder Didi. Mittlerweile haben sich diese „Copycats“ jedoch weiterentwickelt, an chinesische Bedürfnisse angepasst und eigenständige Produkte auf den Markt gebracht, die es so im Westen nicht gibt. Bestes Beispiel ist Tencents WeChat, das „Schweizer Taschenmesser“ unter den Apps. WeChat, als einfacher Messenger gestartet, deckt mittlerweile quasi alle Lebensbereiche ab. Neue Unternehmen sind dazu gekommen wie zum Beispiel die Gruppenrabatt-Website Meituan-Dianping, der Online-Fahrradverleih Mobike oder die Firma Bytedance, die die Kurzvideoplattform Tiktok entwickelt, die auch viele Fans im Westen hat. 

Lee erklärt, dass konsequente Kundenorientierung und ein brachialer Wettbewerb dazu geführt haben. Eine erfolgreiche Geschäftsidee wird in China sofort massenweise kopiert. Chinesische Unternehmer sind deswegen gezwungen, ihre Produkte laufend zu verbessern. Sie entwickeln neue Anwendungen, diversifizieren in großem Stil, verfolgen wenn nötig eine aggressive Preispolitik und kontrollieren strikt ihre Lieferketten. Wer sein Produkt nicht wirkungsvoll schützen kann, geht sehr schnell unter. Inzwischen haben sich fast alle US-Internetfirmen aus China zurückgezogen. Natürlich hat die Politik der Regierung ihren Teil dazu beigetragen, indem sie den chinesischen Markt gegen ausländische Internet-Unternehmen abschottet und einheimische Firmen auf vielfältige Weise fördert, aber im Kern sind die chinesischen Firmen konkurrenzfähiger und näher am chinesischen Kunden. Firmen im Silicon Valley hingegen, meint Lee, arbeiten unter vergleichsweise komfortablen Bedingungen. 

Nachteil der halsbrecherischen Entwicklung und der Hyper-Konkurrenz: für Grundlagenforschung ist keine Zeit. Die chinesischen Anwendungen basieren auf den Grundlagen, die europäische und US-amerikanische Institutionen und Unternehmen geschaffen haben. Dies fällt jedoch nicht mehr ins Gewicht, meint Lee. Die Grundlagen sind geschaffen, jetzt kommt es darauf an, vielversprechende Geschäftsideen im Markt zu implementieren. Dafür braucht es keine Spitzenbegabung wie sie das Silicon Valley anzieht, sondern vor allem zahlreiche findige Anwendungsprogrammierer, die China gerade dabei ist auszubilden. 

Und noch ein Umstand spielt China in die Hände: große Datenmengen. Mehr als 60% aller Chinesen nutzen das Internet. Das sind mehr als 800 Millionen Menschen, die die chinesischen Technologie-Unternehmen in die Lage versetzen, Unmengen von Daten zu sammeln. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser und genauer werden die KI-Produkte. Lee sagt voraus, dass das Silicon Valley heute noch die Nase vorn hat, aber China wird in wenigen Jahren  aufholen. „Wenn man all diese Faktoren zusammennimmt – den doppelten Übergang in das Zeitalter der Implementierung und der Daten, Chinas Weltklasse-Unternehmer und seine proaktive Regierung –, so wird China meiner Meinung nach bei der Entwicklung und dem Einsatz künstlicher Intelligenz bald mit den Vereinigten Staaten mithalten oder sie sogar überholen.“

Was Lee leider nicht erwähnt, sind Internet-Zensur, Überwachung mittels KI oder ethischen Diskussionen über Datenschutz. Er spricht in diesem Zusammenhang vielmehr von „technischem Nützlichkeitsdenken“, das eine schnelle, wirtschaftliche Entwicklung eher beflügelt. Chinas Top-Down-Ansatz bei der Modernisierung kann zwar auch zu Verschwendung und Fehlallokation von Mitteln führen, aber beim „Aufbau einer Gesellschaft und einer Volkswirtschaft, die bereit sind, das Potenzial der KI zu nutzen, ist der von technischem Nützlichkeitsdenken geprägte Ansatz Chinas im Vorteil“. 

So positiv Lee die technisch-wirtschaftliche Entwicklung der KI einschätzt und so sehr China davon profitiert, so dramatisch schätzt er die sozialen Folgen ein, und zwar nicht nur bezogen auf zwei Supermächte, sondern auf die gesamte Welt. Lee geht davon aus, dass wir innerhalb von 10-20 Jahren technisch in der Lage sein werden, 40-50% aller Arbeitsplätze zu automatisieren. Sicherlich entstehen zusätzlich neue Arbeitsplätze, aber der Markt allein wird nicht in der Lage sein, die zahlreichen wegfallenden Arbeitsstellen auszugleichen und einen Kulturwandel herbeizuführen. „Ohne entsprechende Gegenmaßnahmen wird KI die Ungleichheit sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene drastisch erhöhen. Sie wird einen Keil zwischen die KI-Supermächte und den Rest der Welt treiben und könnte die Gesellschaften entlang von Klassengrenzen spalten.“ Die KI-Supermächte werden China und die USA sein, andere Länder, auch Europa, spielen nur eine untergeordnete Rolle. 

Besonders betroffen sind Arbeiten, die von Algorithmen oder Robotern schneller und besser verrichtet werden als von Menschen wie zum Beispiel ärztliche Diagnosen, Buchhaltung, Übersetzungen, Finanzanlage-Beratung oder industrielle Fertigung. Besonders betroffen sind auch Entwicklungsländer, da sich Lieferketten verändern und Herstellungsprozesse in die Ursprungsländer zurückverlagert werden. Außerdem neigt KI zur Monopolbildung. „Verbesserte Produkte locken neue Nutzer an, diese Nutzer generieren weitere Daten, die wiederum zu noch besseren Produkten und somit zu weiteren Nutzern und Daten führen. Hat ein Unternehmen sich erst einmal einen Startvorteil gesichert, so kann ein solcher wiederkehrender Zyklus diesen Vorsprung in eine unüberwindbare Markteintrittsbarriere für andere Firmen verwandeln. Chinesische und US-amerikanische Unternehmen haben diesen Prozess bereits angekurbelt und sich einen gewaltigen Vorsprung vor dem Rest der Welt erarbeitet.“

Weniger oder gar nicht betroffen sind hingegen Dienstleistungen, die unmittelbar mit Menschen zu tun haben wie Krankenpflege, häusliche Betreuung, Kindererziehung, gemeinnützige Arbeit oder Sozialarbeit. Viele dieser Tätigkeiten sind heute jedoch nicht sehr hoch angesehen, geschweige denn gut bezahlt.

Im Alter von 53 Jahren erfährt Lee, dass er schwer an Krebs erkrankt ist, ein Lymphom im 4. Stadium. Lee beginnt, über sein Leben neu nachzudenken, auch darüber, was im Leben eigentlich wichtig ist. Seine außergewöhnlichen beruflichen Erfolge als KI-Wissenschaftler und Geschäftsmann schrumpfen im Angesicht des Todes zur Bedeutungslosigkeit. Ihm wird schmerzlich bewusst, wie kühl berechnend er bisher mit Menschen umgegangen ist und wie wenig Zeit er mit seinen liebsten Menschen verbracht hat. Zusätzlich zur Chemotherapie besucht Lee das buddhistische Kloster Fo Guang Shan in Taiwan und erhält dort den Anstoß für sein neues Denken: „Wir müssen erkennen, dass es in dieser Welt nichts Größeres oder Wertvolleres gibt als den schlichten liebevollen Austausch mit anderen. Wenn wir damit beginnen, findet sich alles andere von selbst. Nur so können wir wirklich zu uns selbst finden.“

Lee ist überzeugt, dass wir die Herausforderungen des KI-Zeitalters nur dann erfolgreich meistern  werden, wenn wir eine Symbiose zwischen Mensch und Maschine schaffen und einen umfassenden Kulturwandel vollziehen. „Wir können nicht mit Maschinen konkurrieren, die uns in naher Zukunft in vielem überlegen sein werden. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was den Menschen einzigartig macht.“ Beim Übergang in das KI-Zeitalter werden wir uns von einer Mentalität verabschieden müssen, die Leben mit Arbeit gleichsetzt oder Menschen als Variablen in einem riesigen Produktivitäts-Algorithmus betrachtet, so Lee. „Stattdessen müssen wir uns eine neue Kultur zu eigen machen, in der Liebe, der Dienst am Menschen und Empathie mehr Wertschätzung genießen als je zuvor.“ Lee schlägt eine Reihe von konkreten Maßnahmen vor wie gute Bezahlung sozialer Dienste, gemeinnütziger Arbeit und Fortbildung („Sozialinvestitions-gehalt“), gesellschaftliches Engagement privater Firmen, das Aktionären, Beschäftigten, Kunden und der Gemeinschaft zugute kommen („Impact-Investing“) sowie ein starker Staat, der die von  der KI generierten Überschüsse verteilt.

Manche mögen Lee belächeln, seine Ideen für naiv oder weltfremd halten. Aber es gibt prominente Unternehmer, die in eine ähnliche Richtung denken und handeln. Der bekannteste unter ihnen ist der Gründer von Alibaba, Jack Ma. Er hat sich im Jahr 2019 aus dem Unternehmen zurückgezogen, um sich seiner Stiftung zu widmen. Auf dem World Economic Forum 2018 in Davos sagte er: „Wir müssen unseren Kindern etwas Einzigartiges beibringen, sodass eine Maschine sie niemals einholen kann: Werte, an etwas glauben, unabhängiges Denken, Teamarbeit, sich um andere kümmern – die Soft Skills – Sport, Musik, Malen, Kunst, damit wir sicher sein können, dass sich Menschen von Maschinen unterscheiden“. Dazu zählt auch die Fashion-Ikone Ma Ke, die das erste chinesische Designerlabel Exception gründete und heute für die First Lady designt, hat sich schon vor einigen Jahren zurückgezogen, um das  Sozial-Unternehmen Wuyong aufzubauen. „Eine Gesellschaft ohne Mitgefühl ist beängstigend“, sagte sie 2016 in Beijing auf einer Veranstaltung, in der kulturelle Identität, Handarbeit, Umweltschutz und soziale Werte im Mittelpunkt standen. Dies sind nur ein paar Beispiele von Chinesen, die sich für mehr Mitmenschlichkeit und Nachdenklich-keit aussprechen. Die Zahl derer, die innehalten, die nach 40 Jahren halsbrecherischer Wirtschaftsentwicklung nach mehr Sinnhaftigkeit und menschlicher Zuwendung suchen, nimmt in China zu. Lee gehört auch dazu, wie sein eingangs erwähntes Zitat zeigt.

Lee hat ein mahnendes Buch geschrieben, das uns vor Augen führt, welche dramatischen sozialen Folgen die künftigen KI-Anwendungen haben werden. Es ist ein sehr persönliches Buch, das uns am radikalen Lebenswandel eines Menschen teilhaben lässt und uns daran erinnert, was im Leben wirklich wichtig ist. Und Lee reißt die kulturellen Grenzen zwischen China und den USA ein und vermittelt dem westlichen Leser, wie chinesische Unternehmer „ticken“ und wie die chinesische Geschäftskultur aus dem Blickwinkel eines KI-Experten aussieht, der sowohl im Westen als auch in China zuhause ist.

Lesenswert!

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