Über das richtige Zeitmaß

Jeder Anfänger will es wissen: wie lang soll eine Qigong-Übungseinheit dauern? Genügen  zehn Minuten oder muss es schon eine halbe oder gleich eine ganze Stunde sein? Wieviel  Zeit muss man im Tagesablauf einplanen, damit die Übungen auf längere Sicht auch  Wirkung zeigen?

Wudang-Lehrer empfehlen eine halbe Stunde am Stück, kürzer macht keinen Sinn. In den Schulen im Wudangshan wird sogar deutlich länger unterrichtet, von 8 – 11.30 Uhr und von 14.30 bis 18 Uhr, ausgedehnte Pausen inklusive, sodass man effektiv mindestens zweimal 2 Stunden übt. Aber da der Alltag – leider – nicht nur aus Qigong-Üben besteht, ist die Frage schon berechtigt: wie lange sollte eine Übungseinheit mindestens sein?

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Auch hier gilt: 30 Minuten für Katze und Mensch und immer lächeln … Bild: WeChat-Account von Suodajikanbu, 20.7.18

Die richtige Übungsdauer hängt eng mit der im Körper zirkulierenden Lebensenergie Qi  zusammen und zwar mit der Geschwindigkeit, mit der sie durch den Körper fließt. Qi wandert unablässig entlang der Leitbahnen durch den gesamten Körper, rechts wie links, hinten wie vorne, oben und unten. Für einen vollständigen Umlauf benötigt sie knapp eine halbe Stunde. Übt man so lange, dann hat die durch die Übungen aktivierte und aufgenommene Qi die Möglichkeit, den gesamten Körper zu durchdringen. Übt man kürzer, kann sie nicht komplett durch alle Bahnen fließen, bleibt vielleicht auf halbem Weg stehen, sammelt sich an bestimmten Stellen und führt manchmal sogar zu Disharmonien im Körper.

Aber wie kommen die Chinesen auf eine halbe Stunde? Das ist eine ganze Menge Rechnerei gespickt mit viel chinesischer Kosmologie. Im Klassiker der Schwierigkeiten Nanjing, Kap 1 steht: „Einmal ausatmen, das Qi bewegt sich 3 Cun, einmal einatmen, das Qi bewegt sich 3 Cun, ein Atemzug, das Qi bewegt sich 6 Cun“. Cun ist ein Körpermaß. 1 Cun entspricht der Breite des Daumens oder der Länge des Mittelfinger-Knochens, vier Finger zusammen entsprechen 3 Cun. Cun wird vor allem dazu verwendet, um Akupunkturpunkte zu lokalisieren. 10 Cun sind 1 Chi und 10 Chi sind 1 Zhang.

Und weiter steht im Klassiker der Akupunktur Lingshu, Kap. 15 „Der 50-fache Kreislauf“ und Kap. 17 „Die Maße der Gefäße“:  Im menschlichen Körper gibt es 28 große Leitbahnen (die 12 paarigen Leitbahnen, je linke und rechte Seite, dann das Aufseher- und das Kontrolleurgefäß sowie die beiden Läufer-Gefäße, macht insgesamt 28). Die Gesamtlänge dieser Leitbahnen beträgt 16 Zhang und 2 Chi oder 1620 Cun, d.h. nach 270 Atemzügen (1620 geteilt durch 6) ist die Qi einmal komplett durch den Körper geflossen.

Zugleich gibt es am Himmel 28 Sternbilder, die an einem Tag von der Sonne durchlaufen werden, ein Tag entspricht 100 Teilstriche. Als Zeitmessinstrument hatten die Chinesen im Altertum eine Wasseruhr, der Stand des Zeigers gab die vergangene Zeit in einem Dezimalsystem an, 100 Teilstriche entsprechen 24 Stunden.

Nun verbinden die Chinesen den Lauf der Sonne durch die Sternbilder mit dem Qi-Fluß durch den Körper und rechnen folgendermaßen: in einem Qi-Umlauf, also nach 270 Atemzügen, bewegt sich die Sonne um 2 Teilstriche, d.h. pro Tag läuft das Qi 50 Mal durch den Körper (100 Teilstriche geteilt durch 2) und der Mensch atmet dabei 13.500 Mal (270 mal 50). Rechnet man dies in unser heutiges Sechziger-System um, benötigt ein Qi-Umlauf genau 0,48 Stunden (24 Stunden geteilt durch 50), also etwa 28 Minuten – eine knappe halbe Stunde.

In heutigen Medizinbüchern steht allerdings, dass die normale Atemfrequenz eines Erwachsenen in Ruhe bei durchschnittlich 12 Atemzügen in der Minute liegt, also bei 17.280 Atemzügen pro Tag, deutlich mehr als die chinesischen 13.500. Stimmt das Modell der Chinesen nun nicht? Aber vielleicht haben die Menschen in China früher langsamer geatmet oder die 13.500 Atemzüge stellen eine Art Idealzustand dar, bei der Mensch und Kosmos, Qi-Umlauf, Atem und Sonnenbahn in optimaler Harmonie stehen.

Wie dem auch sei, wichtig ist, dass man dem Körper Zeit lässt, sich auf die Übungen einzustellen, eine halbe Stunde oder besser noch eine ganze Stunde sind dafür schon notwendig. Aber wenn man mal nicht so lange üben kann oder wenn das Telefon plötzlich klingelt oder der Postbote beim Üben stört, dann muss man darauf achten, dass die Übung ordentlich abgeschlossen wird und das Qi stets zum Ursprung ins Dantian zurückgeführt wird. Dann kann auch kein „Krümmelchen“ Qi irgendwo im Körper hängen bleiben oder verloren gehen.

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