Das echte Beijing ist versteckt

„Die größten Dinge auf dieser Welt sind unsichtbar – Liebe, die Erdanziehungskraft, Vertrauen – und die schönsten Beijinger Hofhäuser, die sogenannten Sihe Yuan (wörtlich: Vier-Beisammen-Höfe)“, sagt Fan Yang, Architekt und Gründer der Website Elsewhere. Das klingt zwar etwas pathetisch – man könnte ohne Weiteres den Weihnachtsmann, das Christkind und den Heiligen Geist ergänzen – es trifft aber den Nagel auf den Kopf. Die Hofhäuser sind unscheinbar, von außen sieht man höchstens schlichte Mauern und kleine unscheinbare Fenster, eine Holztüre, eine kleine Treppe oder ein paar behauene Sockelsteine. Die eigentliche Schönheit ist versteckt, liegt hinter den abweisenden Mauern  und zeigt sich erst, wenn man durch das Eingangstor tritt und Raum für Raum die Schönheiten der inneren Anlage entdeckt.

Fan Yang, der erst kürzlich nach Beijing gezogen ist nachdem er sein Architekturstudium in den USA absolviert hat, liebt traditionelle Beijinger Architektur. Er renoviert und modernisiert alte Hofhäuser und vermietet sie dann auf Elsewhere. Darunter finden sich moderne Teehäuser, umgebaute Tempelanlagen genauso sowie einfache aber ungewöhnliche Räume, die zum Entspannen, zur Inspiration, zum Verweilen, zum Arbeiten, zum Musikmachen, zum Diskutieren oder einfach Alleinsein einladen. Elsewhere funktioniert wie Airbnb nur ohne Übernachten.

Fan Yang macht keine Werbung, es gibt eine Elsewhere Wechat-Seite, auf der die Räume gebucht werden können. Kürzlich organisierte Fan Yang eine Podiumsdiskussion zum Thema Modernisierung alter Hofhäuser in Beijing. In der Regel wird der Wechat-Kontakt jedoch unter Freunden weitergegeben, nicht viel anders als Teng Jings kleines Hotel Mingmingshan Ju in den Beijinger Bergen, die kleine Wushu-Schule Wudaoguan am Houhai, das Guiguzi-Tal oder der alte Kaiserkanal zum Sommerpalast. Die schönsten Dinge in Beijing sind versteckt und auf den ersten Blick unsichtbar. Man entdeckt sie entweder durch Zufall oder über persönliche Beziehungen. Beijing ist zwar eine moderne Metropole, aber Informationen und Kontakte verbreiten sich wie in einer Dorfgemeinschaft hauptsächlich innerhalb persönlicher Netzwerke. Das gilt für das Privatleben genauso wie fürs Geschäft.

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Im Innenhof des 600 Jahre alten Zhizhu-Tempels stehen moderne Skulpturen des chinesischen Künstlers Wang Shugang.

Eine der schönsten Anlagen auf Elsewhere ist der Zhizhu-Tempel. Die Ursprünge des Tempels liegen etwa 600 Jahren zurück, als Beijing die Hauptstadt der Ming-Dynastie wurde. Im Tempel, der in einer unscheinbaren, verwinkelten Seitenstraße nördlich des Kaiserpalasts liegt, waren ursprünglich die Druckereien für buddhistische Lehrschriften untergebracht. Die der Mingdynastie folgenden Qing-Kaiser erweiterten die Anlage um zwei weitere Tempel und bauten sie zu einem wichtigen religiösen Zentrum aus. Als Maos Truppen 1949 in Beijing einzogen, wohnte in der Tempelanlage noch der Sechste Lebende Buddha.

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In der größten Halle des Zhizhu-Tempels findet man neben den alten Säulen auch noch Sprüche aus den 70er Jahren, als der Tempel noch eine Fabrik war.

In den ersten Jahren der Volksrepublik sind die meisten der rund 3000 Beijinger Tempel geschlossen, abgerissen oder zu Fabriken umgebaut worden. Der Zhizhu-Tempel war nacheinander eine Fabrik für Lackmosaiken, eine Fahrradfabrik, dann eine Fabrik für medizinische Geräte, in den 70er Jahren wurden im ehemaligen Tempel die ersten chinesischen Fernsehgeräte hergestellt. Der kleine Produktionsbetrieb konnte mit der rasanten Modernisierung der 90er Jahre und danach nicht Schritt halten und musste schließen. Der Tempel verfiel zusehends, bis im Jahr 2007 ein Belgier die baufällige Ruine entdeckte und sie behutsam zu renovieren begann. Heute sind im Zhizhu-Tempel neben Konferenz- und Arbeitsräumen ein exzellentes Restaurant mit chinesisch-internationaler Küche sowie eine kleine Kunstgalerie mit wechselnden Ausstellungen untergebracht. Im Hof stehen Skulpturen des chinesischen Künstlers Wang Shugang. Ein gutes Restaurant, moderne Konferenz- und Veranstaltungsräumlichkeiten, zeitgenössische Kunst, 600 Jahre alte Architektur sowie Sprüche aus der Maozeit – der Zhizhu-Tempel spiegelt die Geschichte Beijings wie im Brennglas wider.

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Ein Arbeits- und Konferenzraum im Zhizhu-Tempel

Beijing macht es dem Besucher nicht leicht. Die schönsten Orte sind versteckt, auf den ersten Blick abstoßend und nur schwer zugänglich. Aber mit etwas Geduld und den richtigen „Drähten“ kommt man ihnen auf die Schliche. Sie sind grandios und einzigartig.

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