Bin ich noch „Deutschland kompatibel“?

Jetzt sind es wirklich nur noch ein paar Tage bis zum Abflug nach Frankfurt am Main. Was hat sich in Deutschland verändert? Wie hat mich China verändert? Komme ich noch zurecht nach drei Jahren Beijing? Bin ich noch „Deutschland kompatibel“?

Darmstadt hat zum Beispiel den Titel „Digitale Stadt“ gewonnen, lese ich. Anfang 2018 sollen die ersten Projekte umgesetzt werden. Anfang 2018? Warum so spät, frage ich mich spontan und denke an die rasante Geschwindigkeit, mit der manches Projekt in Beijing umgesetzt wird. Aktuelles Beispiel: Leihfahrräder. Es dauerte kein Jahr und in Beijing und anderen Städten Chinas waren Millionen von Leihfahrrädern unterwegs, um den Autoverkehr etwas zu entlasten. Aber mittlerweile sind es so viele Räder, dass sie Bürgersteige, U-Bahn-Eingänge, ja ganze Straßenzüge verstopfen. Beijings Straßen sind zwar breit, aber nicht so breit, dass sie plötzlich Tausende von Fahrräder aufnehmen können. Vielleicht ist es doch ganz gut, man plant ein halbes Jahr länger, denkt an mögliche Folgen und bezieht Partner mit ein, und beginnt dann erst mit der Umsetzung, so wie das typischerweise in Deutschland geschieht. Ein Chinese würde jetzt allerdings sagen: ha, das dauert zu lange, dann gibt es schon wieder etwas Neues, und an alles kann man im Vorhinein sowieso nicht denken. Lieber gleich los schwimmen als sich zu lange am Ufer festklammern. Ein Scheibchen davon könnten wir uns abschneiden.

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Gelbe, blaue, rote, grüne Leihfahrräder soweit das Auge reicht: Eine Kreuzung in Sanlitun, Beijing, für Fußgänger ist kaum noch Platz. Jede Firma hat ihre eigene Farbe. Marktführer sind die roten (Mobike) und die gelben (Ofo). Hinter beiden Unternehmen stecken große IT-Konzerne. Alibaba hinter Mobike, Xiaomi hinter Ofo. Jedes Fahrrad ist mit einem GPS-Sender ausgestattet und kann jederzeit geortet werden.

So rasant manche gesellschaftliche Entwicklung vorangeht, so viel Geduld haben Chinesen im alltäglichen Leben. Busfahren zum Beispiel. Mit welcher Engelsgeduld die Beijinger auf den Bus warten, einen Fahrplan gibt es nicht. Manche Angestellte haben einen 2- bis 3-stündigen Anfahrtsweg bis zur Arbeitsstätte, einfacher Weg wohlgemerkt. Die Fahrtzeit kann man nicht genau vorhersehen, da es in Beijing unglaublich lange Staus geben kann. Aber die Beijinger bleiben ruhig, sitzen oder stehen im klapprigen Bus, morgens vor sich hindösend, abends mit dem Smartphone spielend, keiner regt sich auf, wenn der Bus mal nicht kommt, mal steht oder unterwegs kaputt geht und man auf den nächsten warten muss.

Was für ein Kontrast zu Deutschland! Als ich Anfang Juli auf der Fashion Week in Berlin war, traf ich nur gehetzte, schimpfende, durchgetaktete Einkäufer: der Shuttle-Bus war zu spät, man musste soundsoviel Minuten warten und überhaupt dauerte die Fahrt viel zu lange. Oder die S-Bahn kam ein paar Minuten später, man musste umsteigen, weil eine Baustelle war. Und dann richtig aufregen und laut werden: deswegen konnte man diesen und jenen Termin nicht wahrnehmen, grrrrr, so ein schlechter Service und so weiter, und so weiter. In diesen Momenten kamen mir die geduldigen, entspannten Beijinger Gesichter in den Sinn, schwankend im rumpeligen öffentlichen Bus, im Winter pfeift es durch die undichten Türen, im Sommer läuft der Schweiß den Rücken runter, irgendwo zwischen Dongzhimenwai und Chaoyang Gongyuan. Ein wenig mehr Gelassenheit im deutschen Alltag würde manches entspannen.

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Erst vor etwa einem Jahr gab es die ersten Leihfahrräder in Beijing. Heute sind es Millionen. Foto: Shijue Zhongguo

Es gibt auch Dinge, die bewegen sich in China sehr langsam. Die Verbesserung der Luft zum Beispiel. Es mangelt nicht an Gesetzen oder Kampagnen, aber es dauert und dauert und dauert bis Maßnahmen umgesetzt werden. Das hat das Umweltministerium offenbar auch bemerkt und schickte im Frühjahr diesen Jahres 5600 Kontrolleure nach Beijing, Tianjin und in der Provinz Hebei, um zu überprüfen, ob gesetzliche Umweltstandards eingehalten und Umweltschutzprogramme umgesetzt werden. Hin und wieder erscheinen darüber kurze Berichte in den Medien, vor kurzen dieser: bei etwa 70 Prozent der untersuchten Einheiten seien Umweltverstöße festgestellt worden, die Kontrolleure hätten die zuständigen Lokalbehörden darauf hingewiesen. Unglaublich. Oder: etwa die Hälfte der Kontrolleure seien zeitweise eingesperrt oder daran gehindert worden, Produktionsstätten zu betreten, andere Unternehmen hätten sich einfach geweigert, Daten freizugeben. Noch besser. In diesem Jahr, heißt es in einem anderen Bericht, habe man damit begonnen zu recherchieren (!), wieviel kleine Betriebe die Umwelt verschmutzen. Sie machten zwar als Einzelunternehmen nur wenig aus, aber in der Masse – und die Zahl geht in die Zehntausende – hat es schon eine Wirkung. Wohlgemerkt, das Luftverbesserungsprogramm – das berühmte „10-Punkte-Programm“ – ist bereits 2013 verabschiedet worden, 2016 beginnt man mit der Recherche.

Luft – so etwas Grundlegendes und Selbstverständliches – wenn sie mal nicht sauber ist, wenn sie mal so verschmutzt ist, dass man sie einfach nicht einatmen will, merkt man erst, was es bedeutet, zu jeder Tages- und Nachtzeit tief durchatmen zu können. Ich werde es sicher genießen, wieder bei offenem Fenster zu schlafen, keinen Luftfilter anstellen zu müssen oder am Wochenende einfach raus ins Freie zu gehen, ohne darüber nachzudenken, ob die Luft gut genug ist. Uffff.

A propos Bevölkerung einbeziehen, um noch mal auf die neue „digitale Stadt“ Darmstadt zurückzukommen: die Darmstädter konnten Vorschläge einreichen, was sie unter einer digitalen Stadt verstehen, was in ihrer Stadt digitalisiert werden soll und was ihnen nicht so wichtig erscheint. Sie konnten sich in Diskussionsrunden äußern, welche Befürchtungen sie haben und wo sie Probleme sehen. Wer nicht persönlich teilnehmen konnte, ging auf eine Webseite und konnte online eingeben, was er für wichtig hält. Wow. Bürgerbeteiligung, Zivilgesellschaft. Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen. Stimmt ja, in Deutschland darf man sagen, was man denkt, man darf das sogar öffentlich tun und man darf selber mitmachen und mitgestalten. Wahnsinn.

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Die herrliche Berglandschaft und die alten Dörfer im Westen und Norden Beijings werde ich vermissen.

Als Kontrast ein Beispiel aus Beijing: seit einiger Zeit werden in der Altstadt allzu große Fensterfronten und Eingänge zugemauert. Meist sind davon kleine Restaurant-, Laden-, und Cafébetreiber betroffen, die in den letzten Jahren – meist ohne Genehmigung – ihre Altstadthäuschen etwas erweitert, aufgehübscht und moderner gestaltet haben. Eines Morgens stehen dann Ziegelsteine vor der Tür, dann kommen Arbeiter und mauern die Fenster und Türen einfach zu. Ausdiemaus. Wenn es Widerstand gibt, kommen ein paar Polizisten mit. Etwas später werden dann ein paar kleine, „Altstadt gerechte“ Fensterchen in die Mauer eingefügt. „Kaiqiang dadong“ (Mauer hochziehen, Löcher reinmachen) heißt im Beijinger Volksmund deswegen diese Aktion der Stadt, die seit etwa einem halben Jahr läuft. Angeblich – so ganz genau weiß man das nicht – geht es darum, illegale Veränderungen an Bauwerken wie Anbauten, große Eingänge oder Fensterfronten zu entfernen. Auch hört man, Beijing soll wieder „typisch nach Beijing“ aussehen, vor allem die Altstadt. Allzu große Fensterfronten gehören offenbar nicht dazu. Mehr Intransparenz und Willkür geht kaum.

Ach ja, der Verkehr, da wird es bestimmt ein paar Anpassungsschwierigkeiten geben. Ich darf beim Links-Abbiegen nicht mehr die Kurve schneiden, sodass ich dem Gegenverkehr zuvorkomme. Ich darf auch nicht einfach mal auf der Fahrbahn stehen bleiben, um mein Wechat kurz zu checken. Als Zweiradfahrer muss ich eine rote Ampel wieder ernst nehmen und als Fußgänger darf ich wieder davon ausgehen, dass die Autos am Zebrastreifen halten. Wenn ich einen Polizisten sehe, sollte ich besser nicht einfach um ihn herumfahren, ohne darauf zu achten, was er von mir will. Blinken beim Spurwechsel oder Abbiegen wäre ganz gut, ebenso wie ab und zu in den Rückspiegel schauen. In China schaut man in der Regel nur nach vorne. Was hinten passiert, interessiert nicht. Und, ja, Autos haben Bremsen. Chinesen bremsen nur sehr zaghaft und nur wenn sie unbedingt müssen. Um Hindernisse auf der Straße fährt man herum, an Kreuzungen oder Einfahrten rollt man langsam vor bis man irgendwann drin ist, auch gerne in den Gegenverkehr, es funktioniert, ehrlich. Ob ich mich wohl wieder an den deutschen, geordneten Verkehr gewöhnen kann?

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Diesen Ort werde ich auch vermissen: Wudaoguan am Houhai in Beijing

Was wird mir in Deutschland fehlen? Die herrlichen Berge im Westen und Norden von Beijing werde ich vermissen. Meine Wudang-Lehrer und die nette, kleine Kampfkunstschule Wudaoguan am Houhai. Schnief. Einmal die Woche war ich dort zum Qigong- und Taijiquan-Training. Wenn ich Zeit hatte, ging ich noch zum Zhonglou, um zusammen mit ein paar alten Beijingern zu üben. Dreimal war ich in Wudangshan.  Wushu, Qigong, Taijiquan werde ich in Deutschland auf jeden Fall weiter machen.

Und was noch? Die Beijinger Altstadt, die Hutongs. Die Altstadtviertel machen Beijing aus, nicht die modernen, glitzernden Hochhausfassaden des Central Business Districts. Ich hoffe, dass sie noch lange erhalten bleibt. Und die Beijinger selbst natürlich, die ganz normalen Bürger dieser Stadt, die mit ihrer unbändigen Energie, mit ihrer Offenheit und Direktheit, mit ihrem unglaublichen Optimismus, ihrer ewigen Geduld, ihrer Kreativität und ihrer Zähigkeit noch jede Schwierigkeit überwunden haben.

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