Chinesische Zahlenträume

Chinesen sind Zahlenakrobaten. Kein Firmenportrait ohne detaillierte Umsatz- und Produktionszahlen, Kapital- und Investitionsvolumina der letzten zehn Jahre, keine Präsentation ohne Anzahl der Mitarbeiter, Quadratmeter des Firmengeländes, Höhe und Länge der Produktionshallen, jüngst auch Anschlüsse von Elektroladestationen, ohne Jahreszahlen der Firmenjubiläen und zahllosen Auszeichnungen. Chinesen reihen  auswendig und ohne zu stocken nicht enden wollende Zahlenkolonnen aneinander – für uns Westler ungewohnt und ermüdend.

In China sind Zahlen jedoch sehr wichtig. Zahlen haben Symbolkraft und geben mit scheinbar unwiderlegbarer Objektivität die Realität wieder. Zahlen sind im alten China Ausdruck kosmischer Harmonie und Abbild der allumfassenden Wirkweise des Himmels. Die Acht Trigramme, die Fünf Wandlungsphasen, die Zwölf Himmelsstämme und die Zehn Erdzweige oder der 9-fache Palast Jiu Gong, dessen Zahlen 1 bis 9 so angeordnet sind, dass die Summe immer 15 ergibt, sind dafür nur einige Beispiele.

Der quadratische Palast der Zentralen Harmonie im Kaiserpalast entspricht einem Jiu Gong. Er ist in Architektur umgesetzte Zahlenmystik, Spiegel des himmlischen Gleichgewichts, er ist Mittelpunkt des Kaiserpalastes und Zentrum der Welt, in der der „Sohn des Himmels“, der Kaiser Chinas, lebte und regierte.

Der Kaiserpalast: Symbol der harmonischen Weltordnung

Der Kaiserpalast in Beijing: Abbild der harmonischen Weltordnung mit China als Zentrum

Auch im modernen China haben Zahlen magische Kraft und spielen eine strategische  Rolle für die Zukunft des Landes. Nehmen wir zum Beispiel diese Jahreszahlen: 1839-42, 1848, 1921, 1949, 2021, 2049.

Ende des 18. Jahrhunderts wird der Verfall der letzten Kaiserdynastie offensichtlich, die Kolonialzeit in China beginnt. 1839-42 findet der für China desaströse erste Opiumkrieg statt, die damals waffentechnisch überlegenen Engländer, später auch Franzosen, Amerikaner, Deutsche und Japaner, erzwingen die Öffnung Chinas und richten in Hongkong, Shanghai, Beijing und anderen Städten exterritoriale Gebiete für Gesandtschaften und Kaufleute ein. In China nennt man diese Zeit die „schmachvolle Periode“. Fast zur selben Zeit, 1848, erscheint jedoch das Kommunistische Manifest von Karl Marx. Der Keim für Veränderung ist gelegt und 1949 – also 100 Jahre danach – kann Mao Zedong auf dem Tor des Himmlischen Friedens in Beijing die Volksrepublik China ausrufen. Zufall?

Nehmen wir die nächste wichtige Jahreszahl: 1921, Gründung der Kommunistischen Partei Chinas. Wieder hundert Jahre später – also 2021 – soll in ganz China eine Gesellschaft des „bescheidenen Wohlstands“ verwirklicht sein und bis 2049 – 100 Jahre nach Gründung der Volksrepublik – wird China ein „modernes sozialistisches Land sein, das wohlhabend, stark, demokratisch, kulturell fortschrittlich und harmonisch ist“. Bis dahin wird China etwa 30 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung erzeugen, was den Verhältnissen der vorkolonialen Zeit entsprechen soll.

1921-2021 und 1949-2049 sind die sogenannten „Zwei Hundertjahres-Ziele“ des Chinesischen Traums, des Traums vom Wiederaufstiegs der chinesischen Nation, den der derzeitige Staatspräsident Xi Jinping zu Beginn seiner Amtszeit beschworen hat und der die alte Schmach der Kolonialzeit gewissermaßen wieder wettmachen und an die globale Vormachtstellung Chinas in der vorkolonialen Zeit anknüpfen soll.

China sieht sich in einer über 2000-jährigen geschichtlichen Kontinuität, die mit den ersten chinesischen Kaiserreichen beginnt – sie bestanden in etwa zur selben Zeit wie das römische Reich – und mit der heutigen Volksrepublik China endet. Allerdings ist das römische Reich wie alle anderen antiken Großreiche schon lange untergegangen. Nur China gibt es immer noch. Zufall? Was machen da schon 100 oder 200 Jahre aus. Man denkt langfristig und in großen Zusammenhängen und das nicht erst seit Xi Jinping. Das Jahr 2049 tauchte schon 1985 in einer Rede des damaligen Generalsekretärs der Kommunistische Partei Hu Yaobang auf, und der ehemalige Staatspräsident Jiang Zemin nannte 1997 zum ersten Mal die „Zwei Hundertjahres-Ziele“. Xi Jinping hat den Chinesischen Traum nicht erfunden, er hat ihn jedoch zu seiner Regierungsdevise gemacht.

Kann man das wörtlich nehmen? Für unser Empfinden hört sich das konstruiert und übertrieben an, ein wenig nach Zahlenbeschwörung und nach Appell an das chinesische Nationalgefühl. Jedenfalls kann man den Chinesen nicht vorwerfen, sie würden ihre Absichten geheim halten. Varianten obiger Sichtweise liest man in offiziellen Dokumenten der Nationalversammlung, in Parteitagsbeschlüssen, Statuten der Kommunistischen Partei und in Artikeln einschlägiger Parteimedien. Im Nationalmuseum gibt es dazu seit 2012 sogar eine umfangreiche Dauerausstellung. Trotzdem nehmen nur wenig westliche Chinabeobachter diese Diskussion wahr.

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Linker Hand Weltraumraketen, rechts Friedenstauben und der rote Stern der Partei: mit solchen Motiven wirbt die chinesische Regierung für den Chinesischen Traum. Der Text lautet: „Chinesischer Traum – den großartigen Wiederaufstieg des chinesischen Volkes verwirklichen“. Bild: fzsb.hinews.cn

Chinas Wirtschaft schwoll von 1,2 Billionen USD im Jahr 2000 auf 11 Billionen USD im Jahr 2015 an (Statistik der Weltbank). Sie ist nach den USA (2015: 17 Billionen USD) die zweitgrößte Wirtschaft der Welt und sie wächst jährlich immer noch um etwa 6.5 Prozent. Als Mitte letzten Jahres die chinesische Wirtschaft unerwartet schwächelte, sanken die Weltmarktpreise für Rohöl, Kupfer und andere Rohstoffe. Als im Jahr zuvor an der Shanghaier Börse plötzlich die Kurse sanken, hatte das auch auf andere Börsenplätze negative Auswirkungen. Das Belt and Road Forum im Jahr 2017 hat gezeigt, in welchen globalen Kategorien Chinas Führer denken und welchen „Traum einer harmonischen Weltgesellschaft“ sie propagieren.

Wenn sich China so weiter entwickelt wie in den vergangenen fünfzehn Jahren, wenn die krassen Einkommensunterschiede nicht doch irgendwann China „implodieren“ lassen, wenn die massive Umweltverschmutzung nicht das Wirtschaftsleben und die Gesundheit der Menschen untergräbt, wenn Präsident Trumps Bemühungen China einzudämmen keinen Erfolg haben, dann wird China in einigen Jahren zweifelsohne ein einflussreiches und mächtiges Land sein und die Welt insgesamt „chinesischer“ machen. Das sind zwar eine Menge „Wenns“ und „Abers“, aber in den letzten 15 Jahren haben schon viele sogenannte westliche China-Experten den Untergang Chinas vorhergesagt. Bislang ist regelmäßig das Gegenteil eingetreten und der Aufstieg Chinas verläuft in etwa so wie es die Parteiführung angekündigt haben.

Wir im Westen beschäftigen uns zu wenig mit China. Vor allem wir Deutschen halten es bislang nicht für nötig, uns mit seinen Denkweisen und kulturellen Traditionen ernsthaft auseinanderzusetzen. Es wird Zeit, dass wir das ändern. China wird in Zukunft wichtiger werden und auch unser Leben in Europa mit bestimmen.

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